Interview: »Die EU gilt weltweit als Erfolgsmodell«

Kategorie: Europa verfasst von Metin veröffentlicht am 10.11.2018

Der Rechtsanwalt Metin Hakverdi sitzt seit 2013 für die SPD im Bundestag und wurde 2017 als Direktkandidat in Hamburg Bergedorf wiedergewählt. Er ist unter anderem Mitglied des Ausschusses für Angelegenheiten der Europäischen Union. Hakverdi war Teilnehmer des 168. Bergedorfer Gesprächskreises in Warschau. Das Gespräch führte die Journalistin Gemma Pörzgen.

Dieses Interview erschien zuerst auf der Website der Körber-Stiftung.

Sie waren dieses Jahr in Warschau zum ersten Mal beim Bergedorfer Gesprächskreis. Inwieweit ist dieses Format für Sie als Bundestagsabgeordneter nützlich?

Es ist ein guter Rahmen, in dem offen gesprochen werden kann. Auch der polnische Außenminister kann sich darauf verlassen, dass danach nichts nach außen dringt und politisch gegen ihn benutzt wird. Das macht den Austausch viel einfacher und ist die große Stärke dieses über viele Jahre erprobten Formats. Ich habe den Besuch in Warschau mit einer ersten politischen Reise nach Polen verbunden und über mehrere Tage sehr viele Gespräche geführt. Das war für mich als Abgeordneten vor dem Hintergrund der schwierigen Debatte über Rechtsstaatlichkeit in Polen und den mehrjährigen EU-Finanzrahmen Europas sehr wichtig und interessant. Mir hat der Besuch deutlich gemacht, dass es im Land sehr unterschiedliche Stimmen gibt und die Lage eine differenzierte Betrachtung verdient. Auf der Bahnfahrt von Warschau nach Danzig, aber auch bei Gesprächen auf der Straße, konnte ich einen realistischeren Eindruck von der Stimmung bekommen. Es war hilfreich, sowohl Vertreter der PiS-Regierung wie auch Sozialdemokraten und andere Leute zu treffen.

Abgeordnete sind oft mit wichtigen außenpolitischen Themen befasst, kennen sie aber zu selten aus persönlicher Erfahrung in den betreffenden Ländern. Ist das angesichts der zunehmenden Polarisierung innerhalb der EU nicht schädlich?

Das ist das Dilemma unserer Zeit und nicht nur für uns Parlamentarier. Die Komplexität nimmt zu, die Herausforderungen werden größer und gleichzeitig werden viele politischen Probleme immer kleinteiliger. Das erfordert sehr viel Wissen. Es ist heute notwendig und zugleich schwieriger, die sehr differenzierte und fragmentierte Lage in anderen Ländern zu erfassen. Gleichzeitig erfordern der Dialog im Wahlkreis und die sozialen Medien mehr Partizipation und Dialog mit der Bevölkerung.

Greifen innen- und außenpolitische Themen heute stärker ineinander?

Das ist für mich als Abgeordneten eine intellektuelle und politische Herausforderung. Aber ich kann den Wählern und Wählerinnen in meinem Hamburger Wahlkreis erklären, warum es für mich wichtig ist, zum Beispiel einige Zeit in Polen zu verbringen und mich vor Ort kundig zu machen. Ich kann ihnen dann die innenpolitische Lage in Polen besser erklären. Vielleicht ist es sogar einfacher als früher, weil für jeden heute offenkundig ist, dass es Auswirkungen auf die deutsche Politik gibt und umgekehrt. Durch die Globalisierung hängt alles viel enger zusammen. Als deutsche Politiker beschäftigen uns heute auch mit dem Arbeitsmarkt in Ohio oder Pennsylvania, seitdem wir wissen, dass die Versäumnisse der US-Politik dort direkte Auswirkungen auf die US-Handelspolitik und deren Verhältnis zum Multilaterismus haben. Da ist es plötzlich wichtig, sich nochmal anzusehen: was ist da eigentlich genau los gewesen mit der Stahlproduktion in den USA?

Mich interessiert Ihr Eindruck nach dieser ersten ausführlichen Polenreise. Wo stehen wir jetzt in den deutsch-polnischen Beziehungen?

Dank der jüngsten Ergebnisse des »Deutsch-polnischen Barometers 2018« wissen wir, dass die Polen uns lieber mögen als wir die Polen. Dabei sollte man in der deutschen Wahrnehmung unbedingt zwischen der PiS-Regierung in Warschau und den Polen unterscheiden. Um es ganz deutlich zu sagen, ich glaube nicht, dass wir heute vor allem ein Ost-West-Problem haben oder ein Nord-Süd-Problem. Es gehört zur europäischen Idee dazu, dass wir in den EU-Mitgliedsstaaten sehr unterschiedliche Ideen und Vorstellungen haben. Eine anti-europäische, populistische Stimmung gibt es schließlich nicht nur in Polen, sondern auch in Deutschland, in Belgien und Frankreich, eigentlich in fast jedem Land der Europäischen Union. Wir sollten da nicht mit dem Zeigefinder auf andere zeigen.

Stattdessen sollten wir die politischen Kräfte, die in Polen die Rechtsstaatlichkeit verteidigen, tatkräftig unterstützen und den Dialog mit ihnen suchen. Die gleiche politische Auseinandersetzung müssen wir auch in Deutschland führen. Das ist eine Aufgabe, die alle Europäer betrifft und da sind wir alle im gleichen Boot. Schauen Sie sich die großen Protestkundgebungen gegen die Justizreform in Polen an. Ich kann mich nicht erinnern, wann wir in Deutschland das letzte Mal so viele Leute zu einer politischen Demonstration auf die Straße gebracht haben. Das scheint mir doch eine gute Nachricht aus Polen.

In der Umfrage spiegelt sich wider, dass der Wunsch nach Kooperation in Europa auch in Polen ungebrochen zu sein scheint. Das würde ja zu Ihrem Optimismus passen?

Es gibt Herausforderungen auf dem Kontinent, die wir nur gemeinsam meistern können. In der Außen- und Sicherheitspolitik, in der Flüchtlingssituation, in Fragen der Digitalisierung, der Zukunft des Arbeitsmarktes, beim Klimawandel – das sind alles politische Probleme, die vor der Grenze nicht haltmachen.  Die Idee des europäischen Projekts bedeutet, dass wir bestimmte Werte teilen und sich Probleme gemeinsam besser lösen lassen. Wer geglaubt hat, das gelinge als Nation alleine besser, ist in den letzten Jahrzehnten widerlegt worden. Die EU gilt weltweit als Erfolgsmodell. Wo auch immer Sie auf der Erde hinfahren, alle bewundern uns für diesen Zusammenschluss, der die unterschiedlichen Nationen erhält und ein Höchstmaß an Zusammenarbeit ermöglicht. Es ist nicht nur so, dass wir gegeneinander keine Kriege mehr führen, sondern wir erreichen auch noch eine große wirtschaftliche Prosperität.

Und die Flüchtlingsfrage?

Man muss doch nur auf die Landkarte blicken und die demographische Entwicklung im Kontinent südlich von Europa ansehen. Es ist offenkundig, dass der Umgang mit Migration und Flüchtlingen eine gemeinsame europäische Aufgabe ist. Wer diese Fragen jetzt zum Anlass nimmt, um die europäische Zusammenarbeit an sich in Frage zu stellen, der beabsichtigt etwas ganz anderes. Da geht es dann um das alte nationale Narrativ. Dabei  entspricht der Einsatz für Europa nationalen Interessen. Die Interessen der deutschen Bevölkerung werden innerhalb der Europäischen Union viel besser vertreten und durchgesetzt. Das gleiche gilt für Polen und andere EU-Länder. Wer sich aus der Union  verabschiedet, vergrößert doch nicht seine eigene Souveränität. Das erleben wir gerade beim Brexit. Der Austritt Großbritanniens aus der EU wurde von vielen Briten genau mit diesem Gefühl entschieden, sie wollten wieder mehr Souveränität. Aber das Ergebnis dieser Volksabstimmung ist, dass Großbritannien an Souveränität verlieren wird. Das hört sich zunächst absurd an, ist aber angesichts einer arbeitsteiligen, sehr vernetzten und internationalen Gesellschaft normal. Diese einfachen nationalen Narrative blenden diese Realität aus, um ihre alte Geschichte zu erzählen.

Das interessante ist ja, wenn man mit Briten spricht, dass man das Gefühl hat, das ist ja auch noch gar nicht gelaufen. Es gibt ja Stimmen, die fordern, dass man das nochmal abstimmt oder nochmal überdenkt. Halten Sie das noch für realistisch?

Nein, aber das kann sich natürlich auch nochmal verändern. Die Umfragen in Großbritannien zeigen, dass es dafür derzeit keine Mehrheit gibt.  Die Situation ist absurd. De facto gibt es gerade keine Verhandlungen zwischen Brüssel und London, sondern nur innerhalb der konservativen Tory-Partei. Wenn die sich entschieden haben, sehen wir mal, wie es weiter geht. Aber das Kind ist schon in den Brunnen gefallen. Schon demokratietheoretisch wäre eine erneute Abstimmung schwierig. Ich kann mir nur vorstellen, dass man eines Tages den Vertrag zwischen der EU und Großbritannien abstimmen lässt. Aber jetzt gibt es eine große, starke Gruppe, nicht nur bei den Tories, die sagt, Hauptsache erst mal raus und danach wird man sehen.

Haben Sie den Eindruck, dass die Entwicklungen in den USA unter der Trump-Regierung dazu führen, dass die Europäer stärker zusammenfinden, oder verstärkt das die Spaltung innerhalb der EU?

Die Einigkeit wächst. Es gibt zwar politische Kräfte, die sich durch Trump angespornt fühlen und sein Vokabular übernehmen, aber der Widerstand dagegen wächst eben auch. In Reaktion auf Trump und auf den Brexit haben beispielsweise in Deutschland viel mehr Bürger verstanden, dass es jetzt darum geht, unser Gesellschaftsmodell zu verteidigen und dafür aktiv zu werden.

Was muss dafür geschehen?

Wir müssen uns mehr anstrengen. Der Kriegsgeneration hat man Europa vielleicht noch leichter erklärt. Aber vielleicht sollten wir uns öfter mal an Politiker wie den französischen Außenminister Robert Schumann und Bundeskanzler Konrad Adenauer in den 1950er Jahren erinnern. Heute würde man sagen, sie haben damals politisches Kapital investiert. Die beiden hatten auf jeden Fall Mut, und es war keineswegs so, dass es dafür bei der Rückkehr nach Hause nur Beifall gab. Umso näher diese Krisenhaftigkeit heute an uns heranrückt, wenn man an Trump, den Brexit, aber auch die Entwicklungen in Russland oder in der Türkei denkt, umso mehr sehen wir, dass auch bei uns Politikern heute die Bereitschaft wächst, der europäischen Einigung wegen Risiken zu wagen. Jetzt ist das Zeitfenster, um Europa zu gestalten.